CHRISTA WEBER


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Text: Christa Weber Musik: Christof Herzog

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Verschollener Ruhm der Riesenstadt New York - Bertolt Brecht/
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TEXTE:



Sei Fröhlich!

Die Landung der ersten Menschen auf dem Mond habe ich seinerzeit im Fernsehen verfolgt. Ich war für ein vierwöchiges Praktikum in einem Heim für Kinder aus so genannten „sozial schwachen“ Familien. Der Tag der ersten Mondlandung war mein erster Arbeitstag. Die Heimleiterin brachte mich in die Wohnung meiner Gruppe. Am Ende eines langen Ganges lag hinten rechts das Wohnzimmer. Auf einfachen Holzstühlen saßen vierzehn Mädchen und Jungen mit großen Augen und offenen Mündern vor dem Fernseher. Die Heimleiterin stellte mich der Erzieherin und den Kindern vor, aber meine Ankunft war ihnen gerade mal einen flüchtigen Blick wert, so sehr waren sie von den hüpfenden Mondmännchen fasziniert. Nur ein kleines, vielleicht sieben- oder achtjähriges Mädchen kam auf mich zu. Sie trug ein Kleidchen, dessen Rock sehr weit bauschte als trüge sie einen Petticoat darunter. Die Kleine setzte sich sogleich auf meinen Schoß und umarmte und herzte mich als wären wir alte Bekannte. Ihr Gesicht hatte überhaupt nichts Kindliches und schon gar nichts Niedliches an sich. Weder große Kulleraugen, noch Schmollmündchen oder goldige Ringellöckchen. Das Gesicht des Mädchens glich viel eher dem eines müden Erwachsenen als dem einer Achtjährigen. Ich schaute in glanzlose Äuglein, wurde von schmalen Lippchen geküsst und von struppigem Haar gekitzelt. Das Verhalten der Kleinen stand im krassen Gegensatz zu ihrem Aussehen. Sie war ausgesprochen fröhlich und munter und so zutraulich und neugierig mir gegenüber, wie ich das vorher noch bei keinem Kind erlebt hatte. Ganz ungeniert fragte sie mich: Hast du schon einen Mann? Bist du verheiratet? Hast du Kinder? Und dergleichen mehr.
Das Heim bestand aus mehreren Häusern, die alle um einen weitläufigen Garten mit großer Spielwiese gruppiert waren. Nach dem Mittagsschlaf durften die Kinder, die ihre Hausaufgaben gemacht hatten, zum Spielen in diesen Garten hinuntergehen. Und dort fiel mir auf, dass die kleine Marion, so hieß das verschmuste Mädchen, bei den anderen Kindern sehr beliebt war. Jeder, der sie kommen sah, rief sie an, eilte auf sie zu, umarmte und herzte sie. Mehrmals am Tag spielten sie ein merkwürdiges Spiel mit ihr, das sie mir immer wieder vorführten. Dabei spürte ich an ihnen eine seltsame Gespanntheit. Sie waren anscheinend nicht sicher, ob ich lachen oder sie ausschimpfen würde. Marion, sei fröhlich, riefen sie, und Marion verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Marion sei traurig, hieß es gleich anschließend, und Marion zog wie auf Knopfdruck die Mundwinkel nach unten. Ihr Gesicht legte sich in so viele Runzeln und Falten, dass es aussah wie das Gesicht eines steinalten Menschen. Dieser tieftraurige Ausdruck hatte für die Kinder zugleich etwas Anziehendes und Abstoßendes an sich. Ähnlich einer Gruselgeschichte, die man gerne hört und sich doch davor fürchtet. Nach einem kurzen Augenblick des gebannten Starrens in das fratzenhafte Gesicht, fing eines der Kinder vorsichtig an zu lachen, der Bann war gelöst und alle lachten mit. Am meisten und lautesten lachte Marion.
Irgendwann erzählte mir die Erzieherin Marions Geschichte. Sie war als Dreijährige von ihrem Vater vergewaltigt worden. Dabei hatte er unter anderem ihren Schließmuskel verletzt, sodass sie in der Folgezeit ihren Stuhl nicht mehr halten konnte. Der angebliche Petticoat unter ihrem gebauschten Kleid war nichts anderes als eine dicke Windel mit Plastikhose darüber. Das Erlebnis hatte Marion seelisch so verletzt, dass ihr Gemütszustand auf der Stufe einer Dreijährigen stehen geblieben war.
Am letzten Tag meines Praktikums musste ich Marion fürs Zubettgehen im Badezimmer abbrausen und ihr danach eine frische Windel anlegen. Heute noch sehe ich sie vor mir, wie sie nackt in der Wanne steht und sich hingebungsvoll mit dem Handtuch abrubbeln lässt. Auf einmal kann ich mich nicht beherrschen und sage wie die Kinder das Sprüchlein auf: Marion, sei fröhlich! Und sie zieht wie auf Kommando ihre Mundwinkel hoch und zeigt mir ihr lustiges Clownsgesicht. Marion, sei traurig, spiele ich das Spiel mit ihr weiter, und Marion legt ihr Gesicht in Falten. Da bemerkte ich, dass sie sich im Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand hing, entdeckt hatte. Ich drehe mich um und schaue ebenfalls hinein. Ein unendlich trauriger Mensch blickt mich an. Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu heulen. Aber schon löst Marion ihre Mimik wieder auf, lacht mich an und fällt mir glückselig in die Arme. Und ich drückte diesen kleinen, zerbrechlichen Körper fest an mich.



Sturm

Davor war es eine Woche lang richtig schön warm gewesen. Sommerlich warm geradezu. Und das im Februar! Einigen machte bei diesem Wetter der Kreislauf zu schaffen. Aber die meisten freuten sich über die Wärme, streckten sich genüßlich der Sonne entgegen. Natürlich gab es auch ein paar Mißtrauische, die warnten, das ginge doch nicht mit rechten Dingen zu! Aber sie wurden von der Mehrheit mundtot gemacht. Dann zogen die ersten Wolken auf. Bald darauf setzte Wind ein. Er brachte Regen mit, der gegen die am Waldesrand peitschte. Der Wind wurde stärker, es war jetzt schon Sturm. Wir rückten näher zusammen und gaben uns gegenseitig Halt, stützten uns so gut es ging. Der Regen hörte wieder auf, aber der Sturm wütete jetzt, als hätte er alte Rechnungen zu begleichen. Als wollte er klar machen, wer hier das Sagen hat. Die ersten von uns schwankten schon beträchtlich. Sie ächzten und stöhnten vor Angst. Die Kiefern mit den kurzen Wurzeln flehten um Erbarmen, schrien um Hilfe. Es war klar, daß sie die ersten sein würden, die dran glauben mußten. Jetzt fielen schon einige. Ein paar konnten wir auffangen. Aber jeder hatte ja mit sich selbst zu tun. Aufrecht bleiben! Standhaft! Bloß nicht das Gleichgewicht verlieren! Mein Nachbar rief: Ich laß mich nicht beugen, lieber breche ich! Und kurz darauf krachte es. Aber nicht nur neben mir. Im ganzen Wald brachen die Schwachen, die ohne festen Halt, einer nach dem anderen zusammen. Das war das Schlimmste: mitanhören zu müssen, wie die anderen fielen, während der Sturm sich wie wild gebärdete und scheinbar schadenfroh lachte.
Mehrere Tage und Nächte wütete dieser Sturm. Als er dann endlich nachließ, sanken wir vor Erschöpfung in einen tiefen Schlaf. Und dann kam die Sonne wieder heraus und weckte uns, als sei nichts geschehen.
Tausende von uns bewegungslos am Boden, ihre Wurzeln hilfesuchend in die Höhe gestreckt. Die meisten leben noch, das sieht man am Grün ihrer Blätter. Aber wie lange werden sie noch durchhalten? Wenn keiner kommt und ihnen hilft? Allein haben sie keine Kraft mehr aufzustehen. Und wir anderen sind durch den Schock der vergangenen Tage wie gelähmt. Überall zwischen uns hängen Gestürzte, Gebrochene. Noch können wir sie gemeinsam halten. Aber ihre Last wird immer schwerer. Und was, wenn unsere Kräfte nachlassen? Was, wenn der Sturm erneut losbricht? Werden wir dann mit so vielen Verwundeten und Geschwächten widerstehen können?
Die Sonne scheint. Aber richtig erfreuen können sich an ihr nur noch die ganz Jungen und ein paar, die in den letzten Tagen den Verstand verloren haben. Sie jauchzen und singen. Aber ihre Stimmen klingen merkwürdig fremd durch den Wald.





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